Lügenpresse? Nö, wenn schon Lügeninformant!

tl;dr: Mir scheint, dass die SPIEGEL-Redakteurin im Falle Seibert Media weniger die Firma falsch darstellen wollte, als auf einen Informanten (m/w) reingefallen ist, der sauer auf das Unternehmen ist.

Im Blog von Seibert Media beschreibt Matthias Rauer, wie das Ergebnis einer SPIEGEL-Recherche für einen Artikel über neue Arbeitswelten aussieht. Kurz: Die Redaktion wollte wohl über zu Solo-Selbständige und freie Mitarbeiter recherchieren, wurde bei Seibert Media nicht fündig, kritisierte dann aber Scrum, die dort verwendete agile Methode der Software-Entwicklung, als Mitarbeiter-Überwachungs-Instrument:

Wer hier arbeitet, muss bereit sein, sich auf volle Kontrolle einzulassen. […]

Seither lässt er jeden Mitarbeiter und jeden Kunden online beobachten, ob die Teams ihre selbstgesteckten Ziele erreichen. Sie nutzen dazu ein einfaches Diagramm: Eine blaue Linie zeigt, welche Arbeit getan werden soll. Eine rote, wie viel geschafft ist.

Ich glaube, neben dem Verständnis-Problem für die Methode Scrum ist das Problem weniger, dass eine Journalistin hier eine Firma absichtlich falsch dargestellt hat, um ihre Recherchen noch irgendwie zu retten. Das Problem der nicht sozialversicherten Solo-Selbständigen wurde in einem anderen Beispiel im Artikel abgefrühstückt, die Arbeits-Überwachung nicht. Daher glaube ich, dass die Überwachung als Thema von Anfang an geplant war, und dass die Journalistin sie auf einen Informanten hereingefallen ist, der vermutlich Ex-Mitarbeiter bei dem Unternehmen ist. Nach dessen Beschreibung wurde der große Skandal gesucht: die Totalüberwachung der Mitarbeiter.

Ich hatte vor ein paar Jahren mal einen ähnlichen Fall. Da hat mich ein SPIEGEL-Journalist angerufen und zu einem Verein befragt. Warum ich da nicht Mitglied sei und so. Und war verwundert, dass ich keinen besonderen Grund hatte. Damals führende Mitglieder eines anderen Vereins riefen mich an, warnten vor ersterem Verein, da würde bald was kommen. Im SPIEGEL wurde dann eine seichte Geschichte über Korruption draus, in die Politiker aus dem Verein verwickelt sein sollten. Es war nichts dran, außer: ein Informant mochte den Parteifreund und den einen netzpolitischen Verein nicht – und war Anhänger des anderen netzpolitischen Vereins. Der Lügeninformant und Denunziant; Feind, Todfeind, Parteifreund.

Vollkommen aus der Luft gegriffen sind solche Berichte meist nicht: Irgendwer hat sich blöd angestellt oder ein Fünkchen Wahrheit ist dabei – und dann passiert dem Journalisten im Kleinen das, was dem Verschwörungstheoretiker dauernd passiert: er fällt nicht nur auf den Lügeninformanten rein, sondern kapiert die Zusammenhänge nicht und stellt sich alles mögliche unter seiner Geschichte vor, anstatt einfach die Banalitäten des Lebens zu akzeptieren.

Große Lücken [in der oben erwähnten Grafik, Burndown-Chart genannt] werfen Fragen auf - auch in der Belegschaft. Denn alle Beschäftigten sind am Gewinn beteiligt.

Dazu, dass Scrum auch Druck erzeugt, tatsächlich zu arbeiten anstatt bei Facebook herumzugammeln, braucht man keine Gewinnbeteiligung; da reicht schon das tägliche Kurz-Meeting vom Team, denn da sagt jeder einmal täglich, woran er arbeitet. Und da kann sich der eine oder andere durchaus unter Druck gesetzt fühlen – nichtsdetotrotz halte ich Scrum für eine gute und in vielen Fällen sehr sinnvolle Methode. Übrigens nicht nur in der Software-Entwicklung. Man muss sich ja im Einzelfall nicht pedantisch an alle Regeln halten.

PS, Disclaimer: Ich kenne Martin Seibert persönlich, wir haben uns vor Jahren bei Perl-Konferenzen getroffen. Wir waren auch mal kurz im Gespräch darüber, ob ich bei ihnen einen Job mache – aber ich war dann immer in anderen Projekten beschäftigt. Wir haben seit Jahren allerdings keinen Kontakt mehr.