NetzDG: Viele Fragen

Seit einigen Wochen ist nun das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft, und wie zu erwarten reisst die Kritik nicht ab. Einige Kritik besteht zu recht, manch andere nicht. Wer auch immer die neue Regierung stellen wird und welche Mehrheit sich im Bundestag auch immer finden wird: Meines Erachtens dürfte eine der wichtigsten netzpolitischen Aufgaben sein, hier zu einem besseren Ergebnis zu kommen. 

Aber eigentlich sitzt das Problem viel tiefer, nämlich in den Haftungsregelungen aus § 10 Telemediengesetz (TMG). Dies ist ein altes Problem: Plattformbetreiber sind für die Inhalte ihrer Nutzer ohne Kenntnis nicht verantwortlich – wenn sie aber Kenntnis haben, haften sie für die fremden Rechtsverletzungen voll. Dies hat zur Folge, dass vor allem inländische Plattformbetreiber relativ schnell Inhalte löschen, die ihnen Ärger einbringen könnten. Es ist also schon seit vielen Jahren Standard, was am NetzDG nun lauthals kritisiert wird.

Das NetzDG bietet die Chance, in der Hinsicht Verbesserungen zu ermöglichen. Aber erst einmal sollte man sich im Klaren sein, was man denn überhaupt haben will, welche Regelungen für große wie auch kleine Plattformbetreiber gelten sollen.

Daher habe ich mal ein paar Fragen zusammengestellt, die man in dieser Diskussion beantworten sollte – um auf den Antworten aufbauend zu einer Lösung zu kommen. Bestimmt fehlen einige Fragen und manche kann oder sollte man anders stellen, daher ist dies erst mal ein Anfang – ich bin auf Antworten, aber auch auf Anregungen zu weiteren oder geänderten Fragen gespannt:

  1. Meinungsfreiheit nach deutscher oder US-Variante?
    Welche Vorstellung von Meinungsfreiheit (Link zu Hintergrundinformationen) legen wir in der gesamten Diskussion zugrunde? Dies ist vielleicht die wichtigste Frage überhaupt, denn wenn man die Ansicht vertritt, dass tatsächlich nahezu alles gesagt werden darf (von übelsten Beleidungen über Volksverhetzung und Holocaustleugnung bis hin zu falschen Behauptungen über Personen), dann hat sich ein Großteil der folgenden Fragen bereits erledigt. Aber diese Ansicht (siehe auch Punkt 76 und 77) vertritt noch nicht mal die Mehrheit der AfD-Politiker, die ansonsten als lauteste NetzDG-Kritiker auftreten. 
  2. Sollen Plattformbetreiber Auflagen erfüllen?
    Auch eine zentrale Frage: Sollen Betreiber von Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube – aber auch kleinere Forenbetreiber und so weiter – überhaupt irgenwelche Auflagen erfüllen oder soll es ihnen selbst überlassen werden, wie sie mit den Beiträgen der Nutzer umgehen?
  3. Müssen ausländische Plattformbetreiber sich an hiesige Gesetze halten?
  4. Und müssen ausländische Plattformbetreiber die Einhaltung hiesiger Gesetze durchsetzen?
  5. Haftungsregeln der derzeitigen Regelung aus § 10 TMG und EU-E-Commerce-Richtlinie prinzipiell beibehalten oder nicht?
    Kurzfassung: Plattformanbieter sind für Inhalte Dritter (der Nutzer) nicht verantwortlich, so lange sie keine Kenntnis haben. Ab Kenntnis haften sie, als ob es sich um eigene Inhalte handelt, außer die Inhalte werden entfernt.
  6. Wenn nicht: nie Haftung (auch bei Kenntnis) oder immer Haftung (auch vor Kenntnis) oder anderes?
  7. Also: Sollen bei Verstößen (siehe Punkt 1) die Plattformbetreiber Inhalte entfernen oder nur die Autoren?
  8. Sollen rechtswidrige Inhalte (vgl. Punkt 1) überhaupt entfernt werden?
  9. Wenn ja: Wie schnell sollen rechtswidrige Inhalte entfernt werden? Möglichst schnell, oder ist es OK, wenn es nach Wochen, Monaten oder Jahren geschieht?
  10. Wenn nein: Warum nicht? Sprich: doch Punkt 1 überdenken?
  11. Brauchen die Haftungsregeln aus dem TMG Nachbesserungsbedarf zum Schutz vor ungerechtfertigter oder für schnellere Löschung?
  12. Sollen Plattformbetreiber frei nach eigenen »Gemeinschaftsstandards« entscheiden und Löschen/Sperren dürften?
  13. Wie frei sollen sie dabei sein?
  14. Sollen meinungsrelevate/marktbeherrschende/große Plattformen anders reguliert werden als der kleine Blogger oder Forenbetreiber?
  15. Sollen Plattformbetreiber transparenter werden?
  16. Sollen Betroffene bei Löschung nach Punkt 8 oder 12 ein Widerspruchsrecht haben?
  17. Allgemeiner: Besteht Nachbesserungsbedarf bei u.U. ungerechtfertigten Löschung von Inhalten durch die Plattformen?
  18. Löschen (manche) Plattformen zu viele oder wenige rechtswidrige Inhalte nach Punkt 8?
  19. Löschen (manche) Plattformen zu viele oder wenige Inhalte, nach eigenen Regeln (Punkt 12)?
  20. Ist es prinzipiell richtig, wenn der Gesetzgeber verlangt, dass Plattformen transparente Verfahren etablieren müssen?
  21. Wenn ja: auch für rechtswidrige Inhalte nach 1 oder nur für die eigenen Regeln der Plattform?
  22. Ist es richtig, wenn Plattformen Bußgelder bezahlen müssen, wenn sie keine ordentlichen Verfahren haben?
  23. Bußgelder im Einzelfall oder bei systematischem Versagen?
  24. Sollen Bußgelder bei systematischer ungerechtfertigter Löschung verhängt werden können?
  25. Sollen die Chefs der Plattformen strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie rechtswidrige Inhalte nach 1 nicht entfernen (lassen)?
  26. Im Einzelfall oder bei systematischem Versagen?
  27. Sollen die Plattformen bei Nichtlöschung rechtswidriger Inhalte Bußgelder zahlen?
  28. Wenn 27. ja: im Einzelfall oder bei systematischem Versagen?
  29. Wie lange soll auf eine Entfernung nach 1 gewartet werden?
  30. Wer soll die Kosten für für die zu erledigende Arbeiten tragen? Plattformen oder Staat?
  31. Soll zwischen offensichtlichen einfachen und komplizierteren Fällen unterschieden werden?
  32. Sollen Plattformen auch nicht strafbare Hassrede entfernen dürfen?
  33. … oder müssen?
  34. Sollen Opfer von Hassrede oder strafbaren Beleidigungen etc. sich an die Plattform wenden können?
  35. Oder nur an Strafverfolger?
  36. Soll vor jeder (Nicht-) Entfernung eines Inhaltes ein rechtskräftiges Gerichtsurteil abgewartet werden?
  37. Oder nur ein erstinstanzliches?
  38. Oder nur eine einstweilige Verfügung?
  39. Soll bei offensichtlich rechtswidrigen oder nicht rechtswidrign Inhalten gemäß 36 bis 38 etwas anderes gelten?
  40. Sollte im Zweifel gelöscht werden oder im Zweifel nicht?
  41. Sollten Plattformen Anreize erhalten, schnell zu löschen?
  42. Sollen Plattformen Anreize erhalten, ausgeglichene Verfahren zu etablieren, die die Interessen aller Betroffenen berücksichtigen?
  43. Oder sollen die Plattformen das handhaben wie sie wollen?
  44. Sollen Plattformen Anreize erhalten, Inhalte lange zu behalten?
  45. Sollen Plattformen eigene »Gemeinschaftsstandards« haben dürfen?
  46. Sollten diese möglichst präzise sein, oder reicht eine allgemeine Beschreibung?
  47. Wenn Plattformen entgegen ihrer Standards aus 45 entscheiden: soll das Konsequenzen haben?
  48. Sollen Nutzer ihre Rechte aus 45ff selbst durchsetzen?
  49. Oder sollen das Aufsichtsbehörden machen?
  50. Sollen betroffene Nutzer ihre Rechte aus 1 selbst durchsetzen?
  51. Oder sollen das Aufsichtsbehörden machen?
  52. Sollen Nutzer überhaupt die Möglichkeit haben, Inahlte zu melden?
  53. Solche die gegen 10 bzw. 45 und/oder 1 verstoßen?
  54. Ist es ein Skandal und Eingriff in die Meinungsfreiheit, wenn eine Plattform nach der Prüfung einer Meldung entscheidet: nicht löschen?
  55. Ist es ein unberechtigter Eingriff in die Meinungsfreiheit, wenn ein Inhalt nach 1 gelöscht wird?
  56. Ist es ein unberechtigter Eingriff in die Meinungsfreiheit, wenn ein Inhalt nach 45 gelöscht wird?
  57. Wäre es OK, Inhalte, die möglicherweise unter 1 fallen, zu verstecken oder niedrigerer zu gewichten und beispielsweise nur nach explizitem Wunsch des Lesers anzuzeigen?
  58. Dito für Inhalte nach 45.
  59. Angenommen, Plattformen haben eine Möglichkeit zur Beschwerde über Inhalte, die nach den Regeln der Plattform oder gesetzlichen Regeln unzulässig sind. Sollen Nutzer eine Beschwerde begründen können?
  60. … oder müssen?
  61. Sollen Betroffene benachrichtigt werden, wenn einer ihrer Inhalte nach einer Beschwerde nicht entfernt wurde?
  62. Bei einem Widerspruch nach Punkt 16: sollen Plattform eine Möglichkeit zur Begründung vorsehen?
  63. Wie soll mit verschiedenen Rechtsnormen in verschiedenen Ländern umgegangen werden?
  64. Ab welcher Größe einer Plattform (z.B. Nutzeranzahl oder gesellschaftliche Bedeutung) solloen diese zu Maßnahmen verpfichtet werden?
  65. Angenommen, nur größere Plattformen sind für bestimmte Verfahren verpflichtet. Sollen auch kleinere Betreiber Privilegien genießen, wenn sie (für sie nicht verpflichtende) Verfahren implementieren?
  66. Sollen die Betrieber von Gruppen oder ähnlichem auf den sozialen Netzwerken zu irgendwelchen Handlungen verpflichtet werden, beispielsweise solche wie die Plattformbetreiber selbst oder Teilen davon? 
  67. Soll überhaupt irgendwas gelöscht werden, oder ausnahmslos alles stehen bleiben?
  68. Sollen Nutzer entsprechender Plattformen und Betroffene die Möglichkeit haben, gegen die Entscheidungen der Plattformen (beispielsweise Löschung oder Nicht-Löschung) gerichtlich vorzugehen?
  69. Wenn ja: Sofort oder erst, wenn sie alle Widerspruchsmöglichkeiten bei der Plattform durchgeführt haben?
  70. Wenn ja: Sollen die Plattformen verpflichtet werden, den Nutzert auf das Klagerecht hinzuweisen?
  71. Statt Löschen: sollen rechtswidrige Beiträge markiert werden und das Teilen dieser bestraft werden?
  72. Soll die strafrechtiche Verfolgung der Autoren rechtswidriger Beiträge (unabhängig zu allen obigen Antworten) verschärft werden?
  73. Derzeit verweisen Staatsanwaltschaften bei Strafanzeigen/Strafanträgen wegen Beleidigung und Verläumdung häufig auf den Privatklageweg. Ist dies der richtige Weg?
  74. Oder sollten Staatsanwaltschaften bei Straftaten wie Beleidigung, üble Nachrede und ähnlichem häufiger selbst ermitteln?
  75. Anders gefragt: sollen Opfer von Beleidigungen und ähnlichen Straftaten das Kostenrisiko selbst tragen?
  76. Sollen für mehr Meinungsfreiheit diverse Straftaten abgeschafft werden?
  77. Wenn ja, welche? Beispielsweise: Beleidigung, Üble Nachrede, Volksverhetzung, Holocaustleugnung, Beschimpfung von Religionsgemeinschaften oder die Aufforderung zu Straftaten?

Dieser Fragenkatalog ist ein Ausschnitt aus wichtigen Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man sich über sinnvolle Regelungen Gedanken macht. Er basiert auf einem Twitter-Thread, den ich vor ein paar Wochen gestartet hatte. 

Ich bin sehr gespannt auf Eure Antworten, Anregungen und Vorschläge.

EDIT: Punkt 1 noch um eine grobe Beschreibung der Meinungsfreiheit in den USA ergänzt und Link zur Wikipedia hinzugefügt.