Die Mär vom Milliardenmarkt

Wenn es um das Thema „Kinderpornografie“ (korrekter: Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern) geht, dann sind viele Journalisten wohl so geschockt, dass sie schlagartig sowohl ihren gesunden Menschenverstand als auch ihre Recherchefähigkeiten verlieren. Anders ist es kaum zu erklären, dass immer wieder die gleichen eklatanten Fehler passieren. So behauptet Rainer Leurs heute bei Spiegel Online, dass der Umsatz mit solchen Missbrauchsdarstellungen nicht klar sei, aber laut Schätzungen bei 18 Milliarden Dollar liegen würde. Quelle: eine nicht näher beschriebene Interpol-Schätzung „vor einigen Jahren“, aber wie so oft: kein Link, der Leser könnte dann ja die Quelle überprüfen. Solche Zahlen werden dann wiederum hergenommen, um irgendwelche Maßnahmen zu rechtfertigen, kennen wir ja noch aus der #Zensursula-Debatte.

Wenn man nach der Quelle sucht, stößt man auf einen Vortrag beim Treffen der “INTERPOL Specialist Group of Crimes against Children“ im September 2011, Child abuse material and the Internet: Cyberpsychology of online child related sex offending (PDF-Download). Dort steht etwas von geschätzten 20 Milliarden Dollar, keine weiteren Angaben. Quelle: The ‘Butner Study’ Redux: A report of the incidence of hands-on child victimization by child pornography offenders (PDF). Darin ist auch von geschätzten 20 Milliarden Dollar die Rede, die eine McKinsey-Studie herausgefunden haben will:

As Mr. Allen testified, “Child pornography has become a global crisis. A recent report by McKinsey Worldwide estimated that today commercial child pornography is a $20 billion industry worldwide, fueled by the Internet”

Die passende Endnote verweist auf eine Stellungnahme zu einer Anhörung im US-Congress. Da gibt es zwar viele Anhörungen und Papiere, aber just das Zitat, das aus einem Papier von Ernie Allen des National Center for Missing and Exploited Children (NMEC) stammen soll, habe ich nicht im original gefunden. 

Etwas Suche findet einen Grund: die Zahlen sind unseriös zusammengeraten, wie Recherchen von Carl Bialik vom Wallstreet Journal und Daniel Radosh (via Archive.org) zeigen. Das NMEC zitiert in einem Papier eine angebliche McKinsey-Studie. McKinsey sagt, dass der Text in dem die Zahl auftaucht nur eine pro bono Arbeit war und die Zahl nicht von ihnen komme, sondern von ECPAT, und es sei auch keine Studie. Die haben es angeblich vom FBI, zitiert in einem Bericht für den Europarat (wohl nicht mehr online). Das FBI sagt: die Zahl komme definitiv nicht von ihnen – und dann verliert sich die Spur.

Sprich: es gibt keinerlei belastbare Quelle für die Behauptung eines 18 oder gar 20 Milliarden US-Dollar großen Marktes. Einer plappert die „Schätzung“ des anderen nach, reißereische Zahlen werden veröffentlicht, seriöse Untersuchungen gehen unter.

In einer anderen Stellungnahme von Allen (MS Word-Datei) für den US-Congress steht auch interessantes: 

Commercial websites involving the sexual exploitation of children over the Internet are a growing and lucrative business. Current estimates indicate that on any given day there may be more than 100,000 sites with commercially available child pornography and that this is likely to be a multi-billion dollar-a-year industry.

Einhunderttausend Kinderporno-Websites, kommerzielle! Die springen einem im Internet ja an jeder Ecke entgegen, oder wie?

Aber was stimmt denn nun? Dazu zitiere ich einfach mal aus meiner schriftlichen Stellungnahme für eine Anhörung zum Zugangserschwerungsgesetz im Bundestag

Frage 13: Welche Erkenntnisse gibt es darüber, ob und inwieweit es einen kommerziellen Markt für diese Inhalte nach § 184 b gibt?

Antwort: Es gibt auch kommerzielle Webseiten, die Inhalte nach § 184b StGB verkaufen oder dies zumindest vorgeben. Dieser Markt ist aber nach allen vorliegenden Studien sehr klein. Dies ist nachvollziehbar, da sowohl die Verkäufer als auch die Käufer ein sehr hohes Risiko eingehen. Zudem ist für einen blühenden Markt eine starke öffentliche Präsenz notwendig, die Missbrauchsdarstellungen nach § 184b StGB aber nicht haben.

Nach einer Studie der European Financial Coalition gibt es keinen nennenswerten kommerziellen Markt für Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 184b StGB. Um überhaupt einige Fälle zu finden, wurden sowohl der Missbrauchsbegriff als auch die Kommerzialität sehr weit gefasst: Von 14.579 untersuchten einschlägigen Webseiten enthielten insgesamt nur vier (!) kommerzielle Seiten Bilder von nackten Kindern. Zwei Seiten (0,0137%) enthielten Comic-Zeichnungen mit nackten Kindern, zwei weitere waren Nudisten-Seiten (Seiten mit FKK-Bildern). 

Das Kriminalwissenschaftliche Institut der Uni Hannover erstellt derzeit eine Studie zu dieser Frage. Erste Ergebnisse zeigen, dass es keinen umfangreichen kommerziellen Markt für derartige Inhalte gibt.

Alle belastbaren Untersuchungen sowie Praxisberichte zeigen, dass der kommerzielle Markt für Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern („Kinderpornographie“ nach § 184b StGB) nur sehr klein ist. [Links in Fußnote zu einer Reportage in der SZ und einen Artikel im LawblogDie Täter agieren vor allem im Verborgenen, wollen nicht gefunden werden. Da sich Geldströme nachvollziehen lassen, ist für sie hier das Risiko relativ hoch.

Bei vorhandenen kommerziellen Seiten ist auch nicht immer klar, ob sie wirklich die Inhalte liefern, die sie versprechen. Welcher betrogene Konsument würde sich schon an die Polizei wenden, weil er die bestellten und bezahlten Missbrauchsbilder nicht erhält? Zudem ist bekannt, dass das FBI so genannte Honeypots betreibt, mit denen potentielle Konsumenten angelockt werden sollen. Wer diese Angebote nutzt, wird dann strafrechtlich verfolgt.

Die Studie der Uni Hannover ist in der Zwischenzeit fertig, und hat das vorläufige Ergebnis bestätigt, dass es keinen relevanten kommerziellen Markt gibt. 

Auch wenn zu vermuten ist, dass sich das mit hidden services bei Tor ein klein wenig geändert hat: man kann nicht davon sprechen, dass der kommerzielle Vertrieb von Darstellugen sexuellen Missbrauchs von Kindern einen relevanten Markt oder gar Milliardenmarkt darstellt. 

Die angeblichen hunderttausend kommerziellen Webseiten, die jeden Tag im Internet da seien (siehe Zitat oben) sind auch noch eine Erwähnung wert. Das ist auch so eine geratene Zahl, möglichst hoch, damit es auch erschreckend genug ist. Aber ist das realistisch? Nein.

Als Beispiel kann man die dänische Sperrliste nehmen: in Dänemark werden Webseiten, die vermeintlich kinderpornografisches Material zeigen, blockiert. Diese Liste enthielt im Februar 2008 3863 Einträge, Ende 2009 waren es schon über 5000. Aber irgendwann haben die Dänen festgestellt, dass die Mehrheit der Einträge auf der Webseite gar keine einschlägigen Inhalte haben, also haben sie diese nach und nach aufgeräumt. Im Oktober 2010 enthielt die Liste noch 328 Einträge. In einer Analyse haben wir beim AK Zensur in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen eine Stichproble von 167 Seiten analysiert. Nur auf drei Webseiten waren einschlägige Inhalte – die übrigens innerhalb von 30 Minuten bzw. drei Stunden nach Meldung an den Provider gelöscht waren; auf der Sperrliste standen die teilweise seit Jahren, eine einfache Nachricht an den Provider hat zum Abschalten gereicht, aber das ist ein anderes Thema. Das Beispiel zeigt: huntertausende Webseiten ist einfach quatsch, wenn auf den angeblich gut geprüften Sperrlisten der Polizei schon nur ein Bruchteil einschlägiges Material zu finden ist.

Oft stellt sich auch anderes heraus. Ich erinnere mich noch an eine Anhörung der Fraktion der Grünen im Bundestag 2009 zum Thema Netzsperren. Dort war auch eine Dame eines Kinderschutzvereines geladen, die vom Milliardenmarkt sprach. Als Renate Künast ungläubig nachfragte, wurde klar: die Schätzung bezog sich auf Menschenhandel, und Kinderhandel mit Zwangsprostitution und ähnliches. Da wirken astronomische Zahlen mit einem mal ganz anders – ob sie auch nur halbwegs stimmen weiß aber keiner. Sie sind wahrscheinlich genauso erfunden.

Updates 18. Februar: ein paar kleine Schreibfehler angepasst, das Allen-Zitat eingefügt, einige Formulierungen verbessert

Nachtrag, 22. Februar: Auch Ines Pohl, Chefredakteurin der taz, ist zusammen mit dem Deutschlandfunk auf diesen Unsinn reingefallen, aber noch eine Stufe schlimmer.